Von der Bergbau-Hütte auf die Weltbühne

Die ungebändigte Kraft von Domitila Barrios

Als Domitila Barrios de Chungara 1975 in Mexiko-Stadt die Bühne betrat, ahnte sie nicht, dass ihre Worte Geschichte schreiben würden. Die indigene Bergarbeiterfrau aus Bolivien war als Gast zum ersten Weltfrauentreffen eingeladen worden. Doch eigentlich sollte sie nur Statisterie sein - bis sie begann zu sprechen.

Ihre markante, von Leidenschaften getragene Stimme hallte durch den Saal und riss die Anwesenden aus ihren wohlmeinenden, aber elitären Debatten.

Mit ergreifenden Schilderungen der menschenunwürdigen Lebensverhältnisse indigener Bergarbeiterinnen im bolivianischen Hochland schuf Domitila ein bis dato fehlendes Bewusstsein. Ihre Rede war der erste große Weckruf für ein bis dahin viel zu oft übersehenes Konzept: die vielfache, sich überschneidende Diskriminierung von Frauen aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, Sprache und Klasse. Heute nennen wir es Intersektionalität.

Die berühmte Bloggerin und Feministin Ires Maza schrieb: "

"An jenem Tag in Mexiko wurde die Frauenbewegung erstmals mit den harten Realitäten konfrontiert, die indigene Frauen in den Armutsvierteln und Bergbauregionen Lateinamerikas erleben mussten. Domitilaserschütternde Worte zwangen uns eine neue, radikale Perspektive auf den Kampf für Frauenrechte einzunehmen."

Bewegende Einführung in eine von Entbehrungen gezeichnete Welt.

Domitila leitete ihre Rede mit einer schlichten, aber fesselnden Passage ein:

"Meine Freundinnen, wisst ihr, was es bedeutet eine Frau in einer Bergbaustadt zu sein?

Wisst ihr, wie es ist den ganzen Tag in einer engen, stickigen Hütte zu sitzen, ohne Strom und fließendes Wasser?

Wisst ihr, wie es sich anfühlt, wenn einem die Schächte Ehemänner und Söhne nehmen und man Kinder gebären und verlieren muss?"

Mit diesen schonungslosen Worten riss Domitila die Zuhörerinnen aus ihrem wohlbehüteten Diskurs über abstrakte Frauenrechte und stellte stattdessen die nackten Fakten einer jahrzehntelangen systematischen Unterdrückung indigener Gemeinschaften in den Mittelpunkt. Durch ihren Mut, die unangenehmen Wahrheiten offen auszusprechen, warf sie einen Spiegel vor, der die Frauenbewegung zwang, über ihren eigenen blinden Fleck nachzudenken.

Doch Domitila blieb nicht bei der Problembeschreibung stehen, sondern skizzierte in leidenschaftlichen Worten ihre Vision eines gerechteren Boliviens und Lateinamerikas. Die Bergbausoziologin Ana Cortez beschreibt Domitilas Redekunst so:

"Mit einer einzigartigen Mischung aus scharfer Analyse und poetischer Bildsprache schuf sie für ihre Zuhörer greifbare Utopien eines Lebens frei von Ausbeutung, Not und Diskriminierung."

Eine Jahrhundertstimme, die die falsche Sprache sprach

Domitilas Auftritte in Mexiko markierten einen Wendepunkt, der die Frauenbewegung für die Anliegen indigener Gemeinschaften sensibilisierte. Sie rüttelte die Zuhörerschaft aus einer oberflächlichen, mittelklassezentrierten Sichtweise auf und erinnerte daran, dass der Kampf für Frauenrechte erst dann gewonnen sein wird, wenn er alle Facetten der Unterdrückung beseitigt hat.

Dennoch blieb Domitila Jahrzehnte lang eine Außenseiterin, deren Beiträge vom akademischen Mainstream ignoriert wurden. Laut der Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui lag das vor allem daran, dass die indigenen Denk- und Wissensformen, auf denen Domitilas Aktivismus beruhte, von der westlichen Wissenschaft nicht anerkannt wurden. Silvia Rivera Cusicanqui selbst sagte in einem Interview:

"Domitilas Erkenntnisse entstanden aus einer kollektiven Praxis des Wissens und entsprachen nicht dem individualistischen, voneinander abgegrenzten Wissenschaftsideal der Kolonialgesellschaft."

So kam es, dass das Konzept der Intersektionalität erst in den 1980ern durch die afroamerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw in akademischen Kreisen sichtbar und anerkannt wurde. Crenshaw brachte die vielfachen Formen der Diskriminierung in eine der akademischen Welt verständlichen Sprache. Die indigene Wissensproduktion von Frauen wie Domitila hingegen wurde jahrzehntelang ignoriert.

Die Aktivistin, die alles opferte

Domitilas unermüdlicher Aktivismus brachte unvorstellbare persönliche Opfer mit sich. Bei Unruhen und Protesten verlor sie vier ihrer elf Kinder. Statt sich aber entmutigen zu lassen, schöpfte sie aus diesen Tragödien neue Kraft für ihren Kampf.

Sie sagte einmal:

"Als mein jüngster Sohn in meinen Armen starb, dachte ich, mein Herz würde zerspringen vor Schmerz. Doch dann sah ich seine kleinen Hände, abgenutzt und rissig von der harten Kinderarbeit, die wir ihm nie ersparen konnten.

In diesem Moment schwor ich, dass kein indigener Bergarbeiter, keine Mutter jemals wieder solches Leid erfahren soll."

In Momenten wie diesen verdichtete sich Domitilas Lebensgeschichte zu einer einzigen großen Geste des Widerstands gegen Ungerechtigkeit. Mit ihrem schieren Überlebenswillen und der Weigerung, trotz aller Rückschläge aufzugeben, wurde sie selbst zur Verkörperung jener Kraft, die sie den entrechteten Massen zurückgeben wollte.

Vermächtnis einer visionären Revolutionärin

Als Domitila Barrios de Chungara am 13. März 2012 starb, verloren die sozialen Bewegungen Boliviens eine ihrer wichtigsten Vordenkerinnen und Kämpferinnen. Ihr Leben und Wirken zeigen uns, dass die großen Veränderungen in dieser Welt oft von den leisesten Stimmen angestoßen werden - solchen, die die Mächtigen am liebsten überhören wollen.

Ihr Erbe lebt in all den indigenen Bewegungen fort, die heute in ganz Lateinamerika für grundlegende Rechte, Anerkennung und Selbstbestimmung kämpfen. Es lebt in den feministischen Bestrebungen, Diskriminierung in all ihren Formen zu bekämpfen und die Kontrolle über die eigenen Körper und Biografien zurückzugewinnen.

Domitilas Geschichte erinnert uns daran, aufmerksam den Rändern und Zwischenräumen unserer Gesellschaft zu lauschen. Denn oft sind es die vermeintlichen Randfiguren und die verletzlichsten Mitglieder, die uns mit ihren Worten und Taten die größten Lehren über Gerechtigkeit, Würde und den unzähmbaren menschlichen Überlebenswillen erteilen. Am Dies Weltfrauentag gedenken wir Domitila Barrios de Chungara, einer wahren Visionärin und eisernen Revolutionärin, die uns zeigte, wie transformativ die Stimme einer einzigen Frau sein kann.

Fernando Andia

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